„Eine Welle des Protektionismus und der Deglobalisierung ist nicht ohne Risiken“

Tanguy de Kerviler - Bild: © Laurence de Terline

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Interview

Smart Investor im Gespräch mit Tanguy de Kerviler, Société de Gestion Prévoir, über Auswahlkriterien für europäische Aktien und die wirtschaftlichen Folgen der Trump-Politik

Smart Investor: Trump hat die Präsidentschaftswahlen haushoch gewonnen, die Republikaner haben sich Mehrheiten im Senat und im Repräsentantenhaus gesichert. Was sind die wichtigsten Auswirkungen der neuen US-Regierung für europäische Unternehmen?
de Kerviler: Europäische Unternehmen brauchen Trump nicht, um in Schwierigkeiten zu geraten. Die aufeinanderfolgenden Schocks durch COVID und den Krieg in der Ukraine sowie die europäische Politik der letzten Jahre haben sie bereits geschwächt. Die von Trump angekündigte Politik macht die Sache nicht besser. Dabei sind die Ziele klar: Barrieren errichten, um amerikanische Unternehmen zu begünstigen, und die Produktion ins Inland verlagern, um die Handelsbilanz wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Instrumente sind bekannt: Steuersenkungen, eine Deregulierungswelle und höhere Zölle. Ein Effekt ist sofort eingetreten: der Anstieg der US-Werte. All diese Maßnahmen stärken in den Köpfen der US-Investoren die Attraktivität der Wall Street auf Kosten der anderen Finanzplätze. In der Realität wird es noch einige Zeit dauern, bis sie umgesetzt werden, aber sie werden Unternehmen mit starker amerikanischer Präsenz begünstigen, die vor Ort produzieren und so ihre Rentabilität und ihre Wettbewerbsposition auf einem weniger regulierten, rentableren, aber geschlosseneren Markt verbessern.

Smart Investor: Wie sehen Sie die Rolle Chinas mit Blick auf Europa?
de Kerviler: Die Gefahr, dass massiv subventionierte chinesische Exporte auf den europäischen Markt drängen, ist groß, zumal die wirtschaftliche Lage in China kompliziert ist. Dies könnte der Industrie, insbesondere der deutschen, schweren Schaden zufügen, wenn Europa sich nicht schützt. Eine Welle des Protektionismus und der Deglobalisierung ist nicht ohne Risiken für die Weltwirtschaft. Sie könnte die Inflation wieder anheizen und die Zentralbanken bei ihren Zinssenkungen bremsen. Europäische Unternehmen laufen Gefahr, an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren – aber auch der US-Wirtschaft könnte diese Politik schaden. Trumps Ausgabenpläne sind so umfangreich, dass seit Anfang Oktober starke Spannungen am US-Anleihemarkt zu spüren sind, was für die Aktienmärkte ein eher negatives Signal ist.

Smart Investor: In welchen europäischen Sektoren ist die Angst vor Trumps Zöllen am größten? Welche europäischen Aktien könnten von Trumps Agenda profitieren?
de Kerviler: Die Spirituosen-, Kosmetik- und Luxusgüterindustrie sowie der Automobilsektor und generell Exportunternehmen, die nicht vor Ort produzieren, könnten durch höhere Zölle benachteiligt werden. Erneuerbare Energien und die Pharmaindustrie könnten unter veränderten Umweltauflagen und geringeren Subventionen für das Gesundheitswesen leiden. Schließlich könnte der Halbleitersektor noch mehr Einschränkungen zu spüren bekommen, wenn Trump den Ton im Handelskrieg mit China weiter verschärft. Seit Trumps Wahl hat der Markt diese Risiken eingepreist und die am stärksten betroffenen Sektoren und Aktien stark abgestraft. Deregulierung und Deglobalisierung sind sehr unterschiedliche Phänomene. Die Deregulierung wird, wenn sie hauptsächlich amerikanisch bleibt, vor allem zu Wettbewerbsverzerrungen führen, während die Deglobalisierung inflationär ist. Die Zeit, in der es immer möglich war, günstigere Produktionsfaktoren zu finden, indem man die Produktion vor allem nach Asien verlagerte, ist einem Risikomanagement der Lieferkette und einer Bewegung des Nearshoring/Reshoring gewichen. Auch hier werden diejenigen europäischen Unternehmen profitieren, die über US-Produktionsstätten in der Nähe ihrer Endmärkte verfügen. Europäische Exportunternehmen sind einem möglichen Handelskrieg und dieser Deglobalisierungsbewegung am stärksten ausgesetzt.

Smart Investor: Worauf achten Sie bei der Auswahl europäischer Aktien besonders?
de Kerviler: Wir achten besonders auf die Qualität der finanziellen Fundamentaldaten und die Wachstumsaussichten der Unternehmen. Aus finanzieller Sicht sind die Rentabilität und insbesondere die Kapitalrendite sowie die Bilanzstruktur von entscheidender Bedeutung. Ein niedriger Verschuldungsgrad ist aus unserer Perspektive ebenfalls von Vorteil. Schließlich sind die Generierung von Cashflow und die Cash Conversion essenziell. Weitere wichtige Kriterien sind ein nachhaltiges Wachstumspotenzial sowohl mit Blick auf das Unternehmen selbst als auch auf die Endmärkte und das Engagement im US-Markt mit lokalen Produktionsstätten oder Betrieben.

Smart Investor: Sehen Sie Anzeichen dafür, dass die schwierigeren Rahmenbedingungen in Europa einen Druck erzeugen, der zu einem Ende von Reformstau, Überregulierung und Bürokratisierung in Deutschland führt?
de Kerviler: Es gibt Anzeichen für eine Verlangsamung, aber es ist noch keine Umkehr im eigentlichen Sinne. Das ist wahrscheinlich der nächste Schritt, denn der Aufstieg der extremen Rechten in ganz Europa, die daraus resultierende politische Instabilität und die wirtschaftlichen Rückschläge in Deutschland und Frankreich können nicht unbeantwortet bleiben. Die Wahlen im Februar könnten in Deutschland eine wirtschaftlich realistischere Koalition an die Macht bringen.

Smart Investor: Herr de Kerviler, vielen Dank für Ihre interessanten Ausführungen.

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