„The Big One“

Titelbild: © AdamDiezel – stock.adobe.com

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Ist das der große Börsencrash?

Ständig im Bewusstsein

In Kalifornien bezieht sich der Ausdruck „The Big One“ auf ein großes, potenziell verheerendes Erdbeben, das in der Region erwartet wird. Dieser Begriff ist umgangssprachlich und wird oft verwendet, um die Besorgnis über ein außergewöhnlich starkes Beben auszudrücken, das erhebliche Schäden verursachen könnte. Der US-Bundesstaat liegt auf dem San-Andreas-Graben, an dem die Erde aufgrund tektonischer Verschiebungen häufiger wackelt. „The Big One“ ist dort ein fester Bestandteil der lokalen Kultur und des öffentlichen Diskurses. Entsprechend hoch ist das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Vorsorge. Und da schließt sich der Kreis zur Börse. Jeder Anleger weiß oder könnte zumindest wissen, dass ein größerer Crash gelegentlich auftreten kann. Manche bereiten sich darauf vor, viele verdrängen es aber im Börsenalltag – bis er dann da ist. Danach wird hektisch, ja panisch reagiert.

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Panikverkäufe durch Zollhammer

Der konkrete Auslöser für ein derartiges Ereignis ist fast schon nebensächlich. Sobald einige Nebenbedingungen als Brandbeschleuniger wirken, etwa eine hohe Bewertung oder ein plötzlich als realistisch angesehenes Horrorszenario, kann es schnell zum berüchtigten Kursrutsch kommen. Diesmal war es der von US-Präsident Donald Trump am 2. April 2025 proklamierte „Liberation Day“, der in den folgenden Tagen vor allem die Aktienanleger quer über den Globus von ihren aufgelaufenen Gewinnen „befreite“. Der Gegenstand der Ankündigung waren umfassende US-Zölle, wobei ein Basissatz von 10% künftig für alle US-Importe gelten soll. Die Exporte einzelner Länder wie China (54%) bzw. die EU-Staaten (20%) sollen sogar noch deutlich höher belastet werden. Kaum preisten die Märkte in einer ersten massiven Abwärtsreaktion diese Hiobsbotschaft für den Welthandel halbwegs ein, schon folgte mit chinesischen Gegenzöllen der zweite Schlag. Am Montag war dann erst einmal Panik angesagt. Verkauft wurde querbeet, wobei selbst die bis dahin erfolgsverwöhnten Aktionäre der Panzerschmiede Rheinmetall (WKN: 703000) mit einem Intraday-Kursabschlag von -27% geschockt wurden.

Das Ende der regelbasierten Globalisierung?

Interessant sind einige Details in den Reaktionen. Singapur, eine Handelsnation schlechthin, war ebenfalls betroffen. Trotz eines Freihandelsabkommens mit den USA und eines Handelsdefizits wurde Singapur mit einem Zoll i.H.v. 10% belegt. Singapurs Handelsminister Gan Kim Yong äußerte Enttäuschung, erklärte aber, dass das Land Verhandlungen mit den USA suchen werde, anstatt Gegenzölle zu verhängen, da dies nur zusätzliche Kosten für Importe verursachen würde. Premierminister Lawrence Wong betonte, dass diese Zölle das Ende der regelbasierten Globalisierung markieren und eine protektionistischere Ära einleiten. Damit hatte er die Sorgen der Märkte, die weit über die aktuellen US-Zölle hinausgehen, in zutreffende Worte gekleidet.

Verlierer über Verlierer

Es ist weitgehend anerkannt, dass Zölle den Wohlstand negativ beeinflussen, da sie zu höheren Preisen führen. Während Politik und Staat kurzfristig von erhöhten Einnahmen profitieren können, sinkt langfristig die Wettbewerbsfähigkeit, was die wirtschaftliche Basis eines Landes erodiert – und damit letztlich auch die Fähigkeit der Politik, Steuern zu generieren. Die Abschottung gegenüber dem Welthandel ist, zumindest in der Theorie, immer ein Wohlstandsvernichtungsprogramm, weil dadurch im globalen Maßstab nicht mehr zu den komparativ vorteilhaftesten Preisen und Bedingungen produziert werden kann. Voraussetzung ist allerdings, dass dieser Welthandel auf einer fairen Grundlage erfolgt. In der Praxis wird das häufig nicht der Fall sein, etwa dort, wo ein ausgeprägtes Machtgefälle zwischen den Handelspartnern im Spiel ist. Einige europäische Länder wie Frankreich haben zudem eine lange Tradition, die heimische Industrie durch tarifäre bzw. nicht-tarifäre Handelshemmnisse abzuschirmen. Die USA gehörten in diese Hinsicht bislang zu den eher unauffälligen Ländern. Allerdings können chronische Handelsbilanzdefizite den Druck auf eine Regierung erhöhen, hier gegenzusteuern.

Fair oder unfair?

Das gilt umso mehr, wenn der Saldo des Außenhandels als Hinweis auf die Leistungsfähigkeit und (wirtschaftliche) Stärke eines Landes interpretiert wird, oder ein Defizit direkt am Ego des politischen Anführers kratzt. Bei Donald Trump, der die Vereinigten Staaten bekanntlich „great again“ machen möchte, könnten beide Aspekte eine Rolle spielen. Gerechtfertigt wurden die Maßnahmen mit der Gewährleistung der nationalen Sicherheit und dem Schutz der US-Arbeiter. Allerdings ist es gar nicht so einfach zu entscheiden, ob ein Handelsdefizit tatsächlich auf unfairen Praktiken der Handelspartner beruht, oder ob es der heimischen Wirtschaft nicht doch an Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit mangelt. Solange sich diese Ursachen nicht halbwegs präzise zuordnen lassen und der Dialog von gegenseitigen Schuldzuweisungen geprägt bleibt, ist eine Lösung nicht in Sicht.

Unklare Ziele

Nicht ganz klar wird zudem, worauf die US-Regierung eigentlich mit dem ganz großen Zollhammer hinauswill. Das Produktspektrum der USA ist recht heterogen, von Agrarerzeugnissen, über Industrieprodukte bis zu gefragten HighTech-Artikeln. Letztere dürften eher von unfairen Praktiken betroffen sein, während es bei Basisgütern wie Mais und Stahl eher um die Abschottung der eigenen Industrie gehen könnte. Auch US-Autos sind nicht gerade ein Kassenschlager und selbst Tesla-Fahrzeuge, die in dieser Hinsicht eine innovative Ausnahme bildeten, sind zuletzt von Boykott-Maßnahmen betroffen. Eine One-Size-Fits-All-Zollpolitik wird also kaum die gewünschten Wirkungen erzeugen bzw. höchst unerfreuliche Abwehrmaßnahmen wie zuletzt durch China hervorrufen. Gerade diejenigen, deren Geschäfts- ja Überlebensmodell der unfaire Handel ist, werden den Status Quo mit Klauen und Zähnen verteidigen. Sollten die Bestrebungen der US-Regierung, auch aus geostrategischen Erwägungen heraus in Richtung einer größeren Unabhängigkeit gehen, dann ist überhaupt nicht mit einer Rücknahme der Zölle zu rechnen, weil dann nicht etwa Staaten zu einer fairen Handelspolitik, sondern Unternehmen zur Produktion innerhalb der USA motiviert werden sollen.

„Friendly Fire“

Möglicherweise ist der US-Präsident hinsichtlich der „unpatriotischen“ Reaktion der US-Märkte selbst ein wenig überrascht, denn diese zeigten sich alles andere als begeistert über die ungebetene Schützenhilfe aus dem Weißen Haus. Man nennt es wohl „Friendly Fire“. Der zuvor bereits angeschlagene S&P 500 stürzte seit der Ankündigung in der Spitze um knapp 15% ab. Seit dem Allzeithoch von 6.147 am 19.2. ist der S&P sogar um mehr als 21% gefallen und damit offiziell im Bärenmarkt. Im NASDAQ100 beträgt der Abstand zwischen Verlaufshoch und Verlaufstief sogar mehr als 25%. Getoppt bzw. gefloppt wird dieses Ergebnis noch vom RUSSELL 2000, der sein Allzeithoch bereits am 25.11.24 erreichte: minus 27,7%. Trump hat also den heimischen Börsen einen echten „Bärendienst“ erwiesen. Zu den größten Verlierern gehörten Sektoren wie Technologie und Konsumgüter, insbesondere Unternehmen wie Apple und Nike, die stark von globalen Lieferketten abhängig sind. Defensive Sektoren wie Versorger zeigten relative Stabilität, da Anleger in stabile, dividendenstarke Aktien flohen. Das Ganze ist deshalb pikant, weil ein Großteil der Altersvorsorge der US-Arbeiterschaft, die Trump durch die Maßnahmen zu schützen vorgibt, in genau diesen Aktienmärkten investiert ist.

Wie geht es weiter?

Das zerstörte Vertrauen in eine der Nationen mit einer langen Historie der zumindest verbalen Unterstützung des Freihandels, wird sich selbst im Falle einer 180-Grad-Wende so schnell nicht wieder herstellen lassen. Die Marktteilnehmer haben nun Gewissheit darüber, dass sie Spielball einer kaum zu durchschauenden bzw. zu berechnenden Politik sind, die zudem keine roten Linien zu kennen scheint. Vorsicht bleibt in einer solchen Situation der bessere Teil des Mutes. Sichere Häfen wie Gold werden also weiter relativ besser abschneiden.

Zu den Märkten

Für die Aktienmärkte sind jetzt vor allem zwei Szenarien denkbar. Das eine ist die schnelle V-Umkehr, die jedoch erstens zu den selteneren Formationen gehört und zweitens erst einmal keinen politischen Rückenwind hat. Insofern ist die zweite Variante vermutlich die wahrscheinlichere: Eine Bärenmarktrally, die aus heiterem Himmel einsetzt und in den ersten Stunden große Gewinne beschert. Leider ist ein solches Strohfeuer regelmäßig nur vor kurzer Dauer, denn die wesentliche Triebfeder dahinter sind Baisse-Spekulanten, die ihre Gewinne absichern und durch ihre Rückkäufe eine wenig nachhaltige Kaufpanik auslösen. Sind diese Käufe abgearbeitet, kommt es häufig zu einer Wiederaufnahme des Trends, zumal viele die kurzfristig angestiegenen Kurse als Chance begreifen, den Markt mit nur einem blauen Auge zu verlassen. Zudem ist noch lange nicht gesagt, wann eine derartige Bärenmarktrally beginnen wird. Der gestrige Erholungsversuch im DAX wurde bereits heute wieder im Keim erstickt. Es ist also durchaus möglich, dass es erst noch zu einem weiteren Abwärtsschub kommt, bevor eine solche Bärenmarktrally tatsächlich startet.

Noch eine Warnung: In echten Bärenmärkten werden schließlich auch jene Aktien abgestoßen, die sich zunächst noch gut gehalten haben. Anleger tun sich nämlich in der Regel leichter, dort zu verkaufen, wo nicht bereits hohe Verluste aufgelaufen sind. Zudem sind einige der begehrten Toptitel der vorangegangenen Aufwärtsbewegung so stark abgestürzt, dass die Versuchung steigt, in diese umzuschichten. Dennoch sind Aktien mit echten Aufwärtstrends in einer Baisse echte Raritäten. Erst wenn sich die Baisse ihrem Ende nähert, erhält auch die Entwicklung der Relativen Stärke wieder eine echte Aussage. Tatsächlich dürfte es sogar eine der interessantesten Kaufgelegenheiten in einem Anlegerleben sein, jene Aktien aufzusammeln, die als erste wieder in einen neuen Aufwärtstrend einmünden. Bis dahin ist aber vor allem eines angesagt – Geduld.

Deutsche Dividendentitel: heute Hochtief

Als Anleger war die letzte Woche für die allermeisten mit ordentlich Stress verbunden. Eine bestimmte Gruppe jedoch konnte trotz des Börsen-Crashs nachts weiter gut schlafen – die Dividendensammler. Statt panisch zu verkaufen, sieht diese Spezies solche Rücksetzer als mögliche Einstiegsphase. Ein potenzieller Kandidat könnte Hochtief (WKN: 607000) aus dem MDAX sein. Der Baukonzern ist zwar indirekt durch Lieferketten und Projektkosten auch von der US-Handelspolitik betroffen, auf der anderen Seite ergeben sich aber aussichtsreiche Entwicklungen im heimischen Markt. So konnte man gerade erst einen Großauftrag von der Deutschen Bahn an Land ziehen. Insgesamt scheint die Bauwirtschaft das Tal der Inflationskrise überstanden zu haben und hat einiges nachzuholen.

Hochtief ist sicher kein Dividendenaristokrat. In den Jahren 2021 und 2022 reagierten die Essener auf die Corona-Krise und Inflation, von denen der Bausektor überdurchschnittlich betroffen war, mit Dividendenkürzungen. Doch im großen Bild zeigt sich tendenziell eine kontinuierliche Steigerung der Auszahlungen. In diesem Jahr werden 5,23 EUR pro Aktie ausgeschüttet, was bei einem aktuellen Kurs von 142,00 EUR eine ordentliche Rendite von knapp 3,7% bedeutet. Mit einer Ausschüttungsquote von 63,31% im vergangenen Geschäftsjahr gelingt es dem Unternehmen, eine ausgewogene Balance zwischen der Ausschüttung an Aktionäre und der Investition in zukünftiges Wachstum zu finden. Wer am 7. Juli 2025 in den Genuss der einjährigen Gewinnausschüttung kommen möchte, sollte sich die Aktie aber schon bis zum Ex-Datum 30. April 2025 ins Depot legen.

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Fazit

Die Märkte sind in der Baisse. Nun ist Vorsicht und vor allem Geduld angesagt. Die schnellen und teils erratischen Kursbewegungen sollten allenfalls von Anlegern gespielt werden, die im Trading erfahren sind.

Ralf Flierl, Ralph Malisch

 

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Die Charts wurden erstellt mit stock3 und Tai-Pan von Lenz+Partner. Diese Rubrik erscheint jeden Mittwochnachmittag.

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