Der Makro-Rahmen und die Allzeithochs
ZukunftssorgenNachdem wir uns in der letzten Ausgabe mit kurstreibenden Komponenten des DAX beschäftigt hatten, wollen wir heute den Makrokranz hinter dem Kursanstieg abklopfen. Die Nachrichten zur deutschen Wirtschaft gleichen derzeit oft einer Warnung vor ungemütlichem Winterwetter. Frösteln lässt beispielsweise eine aktuelle Einschätzung der OECD: mit einem prognostizierten Wachstum von nur 0,7% im kommenden Jahr wäre Deutschland das Schlusslicht unter den Industrieländern.
Besonders ernüchternd: Die deutsche Konjunktur ist schon seit längerem blutleer, und die Stimmung im Land entsprechend pessimistisch. Einer Umfrage im Auftrag der Welt am Sonntag zufolge bewerten 77% der Deutschen die aktuelle Wirtschaftslage als schlecht oder sehr schlecht. Nur wenige erwarten im kommenden Jahr eine wirtschaftliche Erholung. Zudem befürchten 63% eine nachlassende Attraktivität des Industriestandorts in den nächsten zehn Jahren.
Wirtschaftliche Unsicherheit und gestiegene Lebenshaltungskosten drücken spürbar auf das Gemüt vieler Bürger – selbst bei Besserverdienern. Laut einer Erhebung der Wirtschaftsauskunftei Schufa gaben 55% der Haushalte mit mehr als 4.000 Euro Nettoeinkommen an, stark beunruhigt zu sein. Noch düsterer ist das Bild bei Haushalten mit unter 2.000 Euro: 75% dieser Befragten äußerten große bis sehr große Zukunftsängste.
Mit welchem Grundgefühl blicken Sie aktuell in die Zukunft? Angaben in Prozent; Schufa-Verbraucherumfrage Oktober 2024Anziehender Frühindikator lässt hoffenAngesichts dieser Tristesse ist jede positive Meldung hoch willkommen. Ein paar zarte Hoffnungsschimmer zeigen sich. So sollte es der Konsumlaune zuträglich sein, dass die Löhne in Deutschland momentan stärker steigen als die Verbraucherpreise. Im dritten Quartal 2024 standen der nominalen Lohnsteigerung von 4,9% laut Statistischem Bundesamt um 1,9% erhöhte Verbraucherpreise gegenüber. Die Reallöhne sind damit bereits das sechste Quartal in Folge gestiegen.
Mut macht auch der Commerzbank-Frühindikator für die deutsche Wirtschaft. Der „Early Bird“ kennt derzeit nur eine Richtung, die nach oben. Im November hat er erneut zugelegt, und zwar um acht auf nun 26 Punkte. Zwar haben sich zwei der drei Komponenten des Frühindikators wie schon in den Vormonaten kaum bewegt (geringfügig verbessertes weltwirtschaftliches Umfeld und begrenzte Bewegungen an den Devisenmärkten). Als positiver Treiber erwies sich aber erneut die Geldpolitik. So ist der kurzfristige Realzins inzwischen deutlich niedriger als vor einem Jahr, und angesichts des laufenden Zinssenkungszyklus der EZB dürfte er laut Commerzbank in den kommenden Monaten weiter fallen. Beim Smart Investor sind wir in dieser Frage jedoch weniger optimistisch. Denn die Zutaten für weitere Preissteigerungswellen sind nach der Inflationsspitze des Jahres 2022 weiter gegeben, etwa in Form heraufziehender Handelskriege und geopolitischer Konflikte.
Entwicklung des Early Bird-Indikator und seiner UnterkomponentenLockerere Geldpolitik eine zyklische StützeDas sollte man im Hinterkopf behalten, denn der von der EZB aufgenommene geldpolitische Lockerungszyklus spielt bei der laufenden DAX-Hausse eine wichtige Rolle. So half nach Commerzbank-Einschätzung der jüngste Renditerückgang für zehnjährige deutsche Staatsanleihen dabei, den deutschen Leitindex in der Vorwoche erstmals über die Marke von 20.000 Punkten zu hieven. Die erwartete DAX-Dividendenrendite von 3,1% liegt trotzdem rund 100 Basispunkte über der Anleiherendite. Selbst die mit 4,2% vergleichsweise hohe Rendite für zehnjährige US-Staatsanleihen helfe dem DAX indirekt, da der große Renditeunterschied den Euro Richtung 1,05 USD je EUR gedrückt habe, wovon wiederum die exportstarken DAX-Unternehmen profitieren.
Darüber hinaus verweist die Commerzbank auf monetäre Indikatoren, die sich zuletzt stetig verbessert haben. So war die Geldmenge M1 jüngst mit einem Plus von 0,2% erstmals seit zwei Jahren wieder größer als im entsprechenden Vorjahresmonat, während sie vor einem Jahr noch um 10% geschrumpft war.
Gelähmtes Führungsduo verschärft ReformstauDa DAX-Rekorde aber nicht gleichbedeutend mit einer zukunftsfesten deutschen Volkswirtschaft sind – viele der Großkonzerne verdienen ihr Geld überwiegend im Ausland –, sollte man sich davon nicht einlullen lassen. Konzentration auf den dringenden Reformbedarf ist angesagt, und der bezieht sich auf die EU als Ganzes. Alarmierend ist, dass derzeit mit Deutschland und Frankreich ausgerechnet das „Führungsduo“ politisch gelähmt ist. Für Deutschland können die vorgezogenen Bundestagswahlen Klarheit bringen, ob dies Verbesserungen für Bürger und Anleger bedeutet, steht allerdings in den Sternen. In Frankreich ist völlig offen, ob angesichts der enormen Herausforderungen überhaupt ein neues tragfähiges Regierungsbündnis geschmiedet werden kann.
Reformbedarf betrifft die EU als GanzesDie Probleme haben aber nicht nur mit Deutschland oder Frankreich zu tun. Für Capital Economics ist etwa die politische Krise in Frankreich sinnbildlich für die zentralen, miteinander verknüpften Herausforderungen, vor denen die EU insgesamt stehe. Das britische Research-Haus warnt vor nicht weniger als einem anhaltenden Niedergang, falls es nicht zu grundlegenden Reformen käme. Chefvolkswirt Neil Shearing stellt vor allem drei Problemfehler heraus:
Entwicklung des realen BIP im Überblick (Q4 2019 = 100)Quellen: LSEG, Capital Economics
Problem Nr. 1: EU-WachstumsschwächeEuropas Wirtschaft leidet seit Jahren unter anämischem Wachstum. Besonders Deutschland fällt mit einer Wirtschaftskraft auf dem Niveau von Ende 2019 negativ auf – fünf Jahre ohne realen Zuwachs. Auch Frankreich und Italien verzeichnen über diesen Zeitraum per Saldo nur geringe Steigerungen von +4,1% bzw. +5,6%, während Spanien auf +6,6% Wachstum kam. Zum Vergleich: Die US-Wirtschaft wuchs im gleichen Zeitraum um +11,4%.
Neben den Folgen von Corona-Politik, Ukraine-Krieg und Energiekrise bilden strukturelle Defizite ein gravierendes Problem. Dazu kommen länderspezifische bzw. hausgemachte Probleme. Zudem bremsen ein schwaches Start-up-Ökosystem und die regulierungsbedingte Innovationshemmung die Eurozone. Produktivitätssteigerungen bleiben aus: Während die US-Wirtschaft ihre Produktivität in den letzten zehn Jahren um durchschnittlich +1,6% jährlich steigerte, waren es in der EU nur +0,3%.
Problem Nr. 2: Fiskalische Ungleichgewichte
Ein zentrales Problem Europas sind die fiskalischen Ungleichgewichte. Frankreich kämpft mit einem Haushaltsdefizit von etwa 6% des BIP, was die politische Krise des Landes verschärft. Ohne Wirtschaftswachstum fehlen Steuereinnahmen, um Schulden zu bedienen und Defizite abzubauen. Auch Italien steht wegen hoher Schulden und schwachem Wachstum unter finanziellem Druck. Deutschland hingegen verfolge laut Shearing eine zu strikte Haushaltsdisziplin. Die gesetzliche „Schuldenbremse“ könnte nach den Wahlen gelockert werden, allerdings wohl nur in begrenztem Umfang, fürchtet Shearing. Smart Investor meint: Dass das übermäßige Leben auf Pump eben gerade kein Erfolgsrezept ist, demonstrieren Länder wie Frankreich und Italien überdeutlich. Schuldenfinanzierte Strohfeuer sind eben kein echtes Wachstum und staatliche Investitionen enden häufig genug als gigantische Fehlallokation knapper Mittel. Warum sollte man diesem Beispiel nacheifern?
Problem Nr. 3: Politische Starrheit
Europas drittes großes Problem ist aus der Sicht von Shearing die politische Unbeweglichkeit. Nach seiner Auffassung verhindern fehlender Reformwille und nationale Eigeninteressen notwendige Veränderungen. Das hohe Lied des Draghi-Berichts singen wir bei Smart Investor allerdings auch in dieser Frage nicht. Die empfohlene koordinierende Rolle Brüssels, etwa den Ausbau einer Fiskalunion mit gemeinsamer Schuldenaufnahme sowie einer Banken- und Kapitalmarktunion, ist ein Irrweg. Die Lösung lautet mehr Markt und weniger Vorschriften durch Brüsseler Bürokraten. Ohne tiefgreifende Reformen in den beiden Kernländern, da geben wir Shearing recht, drohe der EU eine Zukunft mit schwachem Wachstum, fortbestehenden Sorgen um die fiskalische Stabilität und einer abnehmenden globalen Bedeutung in einer von den Supermächten USA und China dominierten Welt.
Finanzbildung ebenfalls reformbedürftigDa wir schon beim Thema Reformbedarf in Europa sind, darf ein Punkt nicht unerwähnt bleiben, der einem Anlegermagazin wie Smart Investor naturgemäß besonders am Herzen liegt. Gemeint ist die Finanzbildung. Um diese ist es bei deutschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht zum Besten bestellt, wie eine aktuelle Jungendstudie des Bankenverbands bestätigt. Demnach geben 80% der 14- bis 24-Jährigen an, dass sie in der Schule „wenig“ oder „so gut wie nichts“ über Wirtschaft und Finanzen lernen bzw. gelernt haben.
Dies ist ein erschreckender Befund, wenn man bedenkt, dass Finanzkompetenz nicht nur wichtig ist, um das eigene Budget zu verwalten. Es geht auch darum, volkswirtschaftliche Zusammenhänge und Politikansätze zu verstehen, um dann informierte (Wahl-)Entscheidungen treffen zu können.
Zu den MärktenNachdem wir einen kleinen Parforceritt durch einige der drängenden Problemfelder unternommen haben, sind wir noch den Bericht über den wöchentlichen DAX-Rekord schuldig. Tatsächlich ging es seit letztem Mittwoch erneut nach oben und es wurden wieder mehrere Allzeithochs erzielt. Allerdings stammt die letzte überzeugende Kerze vom vergangenen Donnerstag. In der Folge ging es deutlich zäher nach oben. Insbesondere der Auftakt am Montag dieser Woche konnte nicht überzeugen. Der deutsche Leitindex eröffnete zunächst mit einem Gap auf Rekordniveau, schloss dann jedoch im Minus, was eine längere rote Kerze zurückließ. Ein erneuter Anlauf am Dienstag musste ebenfalls abgebrochen werden. Der Schluss lag wiederum unter dem des Vortags und im Chartbild blieb ein längerer Docht stehen, was als weiteres Zeichen der Schwäche angesehen wird.
Wir wollen solche Tagesbewegungen nicht überinterpretieren. Auch ist nach dem Spurt um rund 1.500 Punkte in nur zwei Handelswochen eine Verschnaufpause nichts Ungewöhnliches. Die professionellen Kapitalanleger dürften die Füße bis Jahresultimo eher stillhalten, haben sie doch keinerlei Interesse, dass ihnen ein Kursrutsch jetzt noch auf den letzten Metern die erfreuliche Jahresbilanz verhagelt. Mehr als eine Konsolidierung erscheint daher nach unten unwahrscheinlich, neue Anläufe auf das Allzeithoch sind zudem nicht ausgeschlossen. Neu gemischt werden die Karten dann ohnehin erst im Januar.
Musterdepots & wikifolio
In der Rubrik Musterdepots & wikifolio finden Sie unsere Updates zu den Musterdepots sowie zu unserem wikifolio „Smart Investor – Momentum“. In der Ausgabe 48/2024 ist zudem die große Monatsübersicht für November 2024 inklusive der erfolgten Transaktion einsehbar. Im Musterdepotbereich können Sie sich durch einfaches Blättern einen schnellen Überblick über die Transaktionen der letzten Wochen verschaffen. Um diesen Bereich lesen zu können, müssen Sie Abonnent des Smart Investor Magazins sein und sich auf der Smart-Investor-Website einloggen. Sollten Sie Ihr Passwort vergessen haben, fordern Sie bitte ein neues bei abo@smartinvestor.de an.
Fazit
Nachdem wir zuletzt die Komponenten des DAX auf der Suche nach den Kurstreibern abgeklopft haben, widmen wir uns diesmal einigen Makrothemen. Die DAX-Rally steht auf wackeligen Beinen, aber noch steht sie. Wie es im neuen Jahr weitergehen könnte, das lesen Sie dann in aller Ausführlichkeit im Kapitalmarktausblick im neuen Smart Investor 1/2025, der zu Weihnachten erscheint.
Ralf Flierl, Jürgen Büttner, Ralph Malisch
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Die Charts wurden erstellt mit stock3 und Tai-Pan von Lenz+Partner. Diese Rubrik erscheint jeden Mittwochnachmittag.
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