Österreichische Schule
Ein Libertärer als Präsident
Lektionen für die Zukunft
Beginnen wir mit einem Ausflug in die Geschichte. Benjamin Mudlack – Unternehmer, Buchautor und Vorstandsmitglied der Atlas-Initiative – spannte im Gespräch mit Smart Investor einen interessanten Bogen zur aktuellen Situation in Argentinien: Denn kein Geringerer als der wohl bekannteste Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, Ludwig von Mises, hielt bereits im Herbst 1958 sechs berühmt gewordene Vorlesungen in der Hauptstadt Buenos Aires. Seine Themen waren Kapitalismus, Sozialismus, Interventionismus, Inflation, Auslandsinvestitionen sowie Politik und Ideen. Es ist einem Tonmitschnitt zu verdanken, dass dieser Vorlesungszyklus später von seiner Frau Margit unter dem Titel „Vom Wert der besseren Ideen“ in Buchform herausgegeben werden konnte. Obwohl Mises schon damals berühmt war, fielen seine Gedanken im Gastland Argentinien zunächst auf keinen fruchtbaren Boden.
Zu reich für gute Ideen?
Möglicherweise fühlten sich die Argentinier noch immer zu wohlhabend, um an Mises’ vermeintlich radikalen Ideen Gefallen zu finden. Das Land war zu Beginn des 20. Jahrhunderts schließlich noch eines der reichsten, wenn nicht das reichste Land der Welt („Rich as an Argentine“) gewesen und die vergangene Größe dürfte in den Köpfen noch nachgewirkt haben. Doch dieser Nachhall hatte mit dem Ist-Zustand Ende der 1950er-Jahre schon nicht mehr viel zu tun. Der Abstiegsprozess hatte bereits begonnen, wobei der erste entscheidende Einschnitt durch die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre erfolgte. Im Jahr 1946 kam mit Juan Perón ein linkspopulistischer Präsident an die Macht, der die Dinge weiter verschlimmerte – inkl. einer Aufblähung des Sozialstaates durch immer neue Anspruchsberechtigte, Verstaatlichungen, Fünfjahrespläne etc. Bundesbürger sollten diesen Abstieg von einem Gipfel einst erreichter Prosperität genau studieren, müssen dazu aber inzwischen nicht mehr bis nach Argentinien schauen. Das Mantra vom „reichen Land“, mit dem uns die Politik regelmäßig einlullt, ist längst keine Zustandsbeschreibung mehr, sondern dient lediglich als Aufhänger für weitere Plünderungen einer ohnehin leeren Staatskasse.
Das „Risiko“ des Markts
In Argentinien dauerte es bis 2023 – also 65 Jahre bzw. mehr als zwei Generationen –, bis sich der Kreis schloss und, wenn man so will, die Saat aus dem Jahre 1958 schließlich doch noch aufging: Javier Milei wurde der erste libertäre Präsident des Landes. Vielleicht muss eine Volkswirtschaft durch Korruption und Sozialismus erst einmal bis auf den harten Boden der Realität heruntergewirtschaftet worden sein, damit eine über Jahrzehnte bis in die Knochen indoktrinierte Wählerschaft das „Risiko“ eines marktwirtschaftlichen Kurswechsels wagt? Es waren vor allem die Jungen, die Milei ins Amt brachten. Angesichts der düsteren Aussichten hatten sie auch kaum etwas zu verlieren. In überalterten Gesellschaften wie der deutschen dürfte ein solcher Umschwung Richtung Markt, Freiheit und Selbstverantwortung dagegen auf mehr Widerstand stoßen. Hier halten die Besitzstandswahrer – Motto „Für uns reicht es noch“ – das Heft fest in der Hand. Auch altersbedingt gehören sie zur Keine-Experimente-Fraktion, bei der eine vorgebliche Sicherheit allemal vor Freiheit geht. Im Ergebnis ist jener Populismus politisch erfolgreich, der den schrumpfenden Kuchen einer sich beschleunigenden Interventions- und Abwärtsspirale vor allem „gerecht“ umverteilen will. Argentinien hat dies über Jahrzehnte und letztlich bis zum bitteren Ende durchexerziert.
Gegen das Parlament
Milei ist zwar noch nicht die berühmten ersten 100 Tage im Amt, sondern per Erscheinen dieser Ausgabe gerade einmal rund 75, aber er hat bereits ein eindrucksvolles Tempo vorgelegt. Allerdings kann er nicht ganz so, wie er will: Denn er verfügt im argentinischen Präsidialsystem zwar über eine starke Stellung, seine Partei „La Libertad Avanza“ (38 Sitze) und die Partei „PRO“ (37 Sitze), die mit ihm zusammen regiert, kommen jedoch nicht auf die absolute Mehrheit von 129 der 257 Sitze. Damit ist Milei fallweise auf die Unterstützung anderer Parteien wie der Unión Civica Radical (UCR; 34 Sitze) angewiesen.
Monetäre Rosskur
Eine seiner spektakulärsten ersten Maßnahmen war die drastische Abwertung des argentinischen Pesos um weitere 50%. Damit habe er es geschafft, einige Probleme bei der Zentralbank in den Griff zu bekommen. Eine tickende Zeitbombe, die mit Priorität entschärft werden musste, befand sich nach Auffassung des Milei-Kenners Prof. Dr. Philipp Bagus (vgl. Smart Investor 12/2023 ab S. 16) in der Bilanz der Notenbank. Dort schlummerten Passiva, die mit über 100% p.a. verzinst wurden – Zinsen, welche die Notenbank durch Gelddrucken „bezahlt“ hat. Zwar wurden mit diesen kurzfristigen Darlehen Pesos eingesammelt, die zunächst nicht inflationswirksam wurden, durch die hohen Zinszahlungen verdoppelte sich die Geldbasis jedoch jedes Jahr. Nun erfolgte die Umschuldung in deutlich tiefer verzinste langfristige Staatspapiere. Zudem konnte Milei Dollarreserven aufbauen. Mit diesen Maßnahmen, so Bagus, konnte bislang die drohende Hyperinflation abgewendet werden – eine gewaltige Leistung auf der monetären Seite, die auch ein wichtiger Schritt in Richtung Dollarisierung und endgültige Schließung der argentinischen Zentralbank sei.
Regieren per Dekret
Die Parteienkonstellation im Parlament macht eine eigene Strategie erforderlich – das Regieren per Dekret. Mit einem Dekret wollte Milei über 300 Regulierungen abschaffen. Ein Teil des Vorhabens wurde jedoch vom Verfassungsgericht kassiert. Betroffen war vor allem die Arbeitsmarktliberalisierung. Hintergrund war nicht, wie Bagus betont, der Inhalt der Reform, sondern der Umstand, dass das Verfassungsgericht nicht jene dramatische Notlage zu erkennen vermochte, die Voraussetzung für ein solches Dekret gewesen wäre. Weiter in Kraft sind dagegen andere Teile der Reform, etwa die Abschaffung der Mietpreiskontrolle. Diese führte zu einer Explosion des Angebots an Mietwohnungen und zu einem realen (!) Rückgang der Mietpreise. Zudem konnte Milei auch Staatsausgaben per Dekret senken, vor allem diejenigen für Subventionen und den Staatsapparat selbst. So wurde all jenen gekündigt, die von der Vorgängerregierung noch mit einem Posten versorgt worden waren. Auch das Homeoffice wurde abgeschafft. Es gab Menschen, die nie zur Arbeit gegangen waren, aber ein Gehalt bezogen, weil sie die Parteifreunde von irgendjemandem waren. Eine drastische Reduktion betrifft zudem die Transfers der Zentralregierung an die Gouverneure der Bundesstaaten. Milei muss das Haushaltsdefizit beseitigen, um die Zentralbank von der Monetisierung weiterer Schulden zu befreien. Nur auf diese Weise ist die angekündigte Dollarisierung realistisch, so Bagus.
Das große Omnibusgesetz
Das Gesetzesvorhaben „Ley Ómnibus“ mit zahlreichen Einzelthemen schaffte es zwar durch die erste Lesung im Parlament, wurde dann aber Anfang Februar aufgrund der Mehrheitsverhältnisse abgelehnt. Milei sieht dahinter „die Kaste“, die an ihren Privilegien festhalten wolle, auf Kosten der Zukunft des Landes und der Freiheit der Argentinier. Mileis Strategie ist klar: Alle, die gegen das Ley Ómnibus gestimmt haben, brandmarkt er als „Verräter“, die sich gegen die Mehrheit stellten. Er ließ sogar deren Namen veröffentlichen. Da er nicht bereit ist, bei den Reformen weitere Zugeständnisse zu machen, hat er das Gesetz zurückgezogen. Er baut jetzt auf eine eigene Mehrheit bei den Parlamentswahlen im Jahr 2025.
Die Durststrecke
Die Durststrecke bis dahin will er mit Dekreten überbrücken. Wie gefährlich ist diese Zeit für ihn? Gegenwärtig steht die Mehrheit klar hinter ihm. Der Generalstreik von Opposition und Gewerkschaften war ein Fehlschlag. Bei Mileis Antrittsrede beklatschten die Argentinier sogar den Satz „No hay plata“ („Es gibt kein Geld“). Die Menschen wissen also, dass es schlechter werden wird, bevor es besser werden kann. Der Präsident kommuniziert dabei deutlich, dass es „die Kaste“ ist, die diese Durststrecke unnötig verlängert. Verfängt dieses Argument, werden die Leute Milei weiter unterstützen, zeigt sich Bagus überzeugt. Falls die Inflation aber außer Kontrolle gerate, könnte es für Milei eng werden. Daher geht Milei nach klaren Prioritäten vor. Bei den Reformen der ersten Generation gehe es um die Verhinderung der Hyperinflation, um Deregulierung, Konsolidierung der Staatsfinanzen, die Dollarisierung und die Ermöglichung von Wachstum. Erst bei den Reformen der zweiten und dritten Generation stehe dann die Reformierung des Sozialstaates und des Bildungswesens an.
Internationale Vernetzung
Im bundesdeutschen Mainstream wird Milei – naturgemäß – überwältigend negativ gesehen. Relevant ist das nicht, denn der libertäre Präsident ist außenpolitisch alles andere als isoliert. Der IWF hat ihn sogar bereits zu seinen Fortschritten beglückwünscht und ihm ein Darlehen zur Ablösung alter Kredite gegeben. Die USA sind auch deshalb auf seiner Seite, weil man in Lateinamerika entweder auf der Seite von Kuba, Lula, Maduro und Morales oder auf der Seite der „Yankees“ stehe, so Bagus. Milei habe sich klar auf die Seite der USA geschlagen, auch im Hinblick auf die angestrebte Dollarisierung, während er die BRICS-Gruppe gleich wieder verließ. Benjamin Mudlack vermutet dahinter aber auch Taktik. Milei gehe es um Handel, nicht um Geopolitik – da sei ein formal neutraler Status von Vorteil.
Fazit
In Argentinien kann die Welt eines der interessantesten und vielversprechendsten Sozialexperimente der jüngeren Geschichte bestaunen. Ein Libertärer und Austrian versucht, ein durch Sozialismus und Korruption über Jahrzehnte heruntergewirtschaftetes Land wieder flott zu bekommen. Unabhängig davon habe Milei schon jetzt, so zeigt sich Mudlack überzeugt, neue Zielgruppen für die Ideen der Freiheit erschlossen und diese weit über die Community der Liberalen und Libertären hinaus popularisiert.