Politik & Gesellschaft
Smart Investor im Gespräch mit dem Psychoanalytiker Dr. Hans-Joachim Maaz, Autor des Buchs „Friedensfähigkeit und Kriegslust“
Smart Investor: Herr Dr. Maaz, Sie gehen in Ihrem Buch der Frage nach, was uns Menschen eigentlich friedensfähig macht. Warum sind wir das denn so selten?
Maaz: Für mich ist Friedensfähigkeit gleich Liebesfähigkeit gleich Demokratiefähigkeit. Also: Wer nicht für den Frieden ist, kann auch nicht für die Liebe sein, der kann auch kein Demokrat sein. Heute bin ich überzeugt, die Bundesrepublik ist keine echte Demokratie, wie man sich das wünscht, sondern es ist ein „Demokratiespiel“; d.h., sie wird nicht von Menschen getragen, die Demokraten sind, in meiner Sprache innerseelische Demokraten, sondern die aktuellen Politiker spielen Demokratierollen. So war es nach 1945 und nach 1990 eben auch möglich, dass ehemalige Nazis oder Stasileute über Nacht zu „Demokraten“ wurden. Damit ist klar: Wer gut spielen kann, das ist eine Frage der Rhetorik und der Fähigkeit, sich kämpferisch und intrigant nach oben zu bringen – hier stellen sich auch Fragen der Korruption usw. –, kommt weiter. Wir haben eine Parteiendemokratie aus Spielern. Die Menschen, die an die Macht kommen, sind in dem Sinne keine Demokraten, sondern sind diejenigen, die es geschafft haben, dieses Spiel gut zu spielen. Weder geht es um Bildung noch um fachliche Kompetenz, sondern um Darstellerfähigkeiten. Innerseelische Demokraten hingegen sind Menschen, die echt nach ihren Möglichkeiten und Begrenzungen leben, nicht in einer sozialen Rolle, und die sich weder überbewerten noch andere abwerten. Im Unterschied, und das betrifft heutzutage die meisten, wissen die Menschen heute nicht mehr, wer sie sind und was sie sein könnten, aber sie wissen sehr gut – das haben sie so gelernt –, wie sie sein müssen!
Smart Investor: Wie ließe sich das denn in einer Gesellschaft positiv verändern?
Maaz: Es sollte nicht mehr um Erziehung gehen, sondern um Beziehung, d.h., was Kinder brauchen, ist eine möglichst optimale Mutter-Vater-Kind-Beziehung. Es gibt aus meiner Sicht vier mütterliche und vier väterliche Beziehungsqualitäten, hier nur in aller Kürze. Mutterbedrohung: Die Mutter will das Kind nicht. Mutterbesetzung: Die Mutter will das Kind für sich haben. Muttermangel: keine hinreichende Mutterliebe. Muttervergiftung: Sei so, wie ich dich haben will! Die positiven Gegenstücke dazu wären Mutterannahme: Mein Kind, du bist mir willkommen. Mutterfreiheit: Werde so, wie du sein kannst. Mutterliebe: Ich liebe dich, weil du mein Kind bist, ohne Gegenleistungen zu erwarten. Mutterbestätigung: Du brauchst nicht so zu werden, wie ich dich haben will, sondern so, wie du werden kannst und möchtest. Ähnliches gilt bei den väterlichen Beziehungsangeboten. Das sind: Vaterterror oder Vaterannahme, Vatererpressung oder Vaterfreiheit, Vaterflucht oder Vaterförderung, Vatermissbrauch oder Vaterverständnis. Die Dominanz der mütterlichen und väterlichen Störungen hat dazu geführt, dass die Mehrheit der Kinder heutzutage von sich entfremdet wird.
Smart Investor: Was heißt das, entfremdet zu sein?
Maaz: Von sich entfremdet zu sein ist eine traumatisierende Erfahrung, die immer mit Gefühlen verbunden ist: mit berechtigter Empörung, berechtigtem Zorn, sogar Hass gegen die Eltern und Fremdbetreuer, wenn man nicht angenommen und geliebt, sondern verletzt oder gekränkt wird. Mit diesen Gefühlen, mit Empörung, auch mit seelischem Schmerz und Trauer über das, was man nicht hat entwickeln können, kann man nicht gut leben. So versucht jeder, die Identitätsstörung zu kompensieren, sich zu betäuben oder von der Traumatisierung abzulenken. So kann man sich mit Alkohol, Drogen, Medikamenten, aber auch mit Vielessen oder Arbeit betäuben und vor allem sich mit unendlichen Informationen über Handy und Internet ablenken. Muttermangel und Vaterflucht sind die häufigsten elterlichen Beziehungsdefizite, die in der Regel narzisstische Störungen bedingen. Das Kinder erlebt: Ich bin nicht gut genug, ich bin nicht geliebt worden, also muss es an mir liegen. Ein Kind kann nicht verstehen, dass es an den Eltern liegt, also strengt es sich an, gut zu sein. Man kann dadurch Ansehen, Macht und Geld verdienen, aber eben keine Liebe. Und das ist der Punkt – nämlich dass in einer kapitalistischen Gesellschaft die narzisstische Störung gebraucht wird und dominiert. So entstehen die überzogenen Leistungsträger. Der Narzisst ist im Wesen ja gefühllos für die Belange des anderen und, ich sage das so, weil ich, nach allem, was ich kennengelernt habe, davon überzeugt bin: Heutzutage ist die narzisstische Störung eine Grundvoraussetzung, um politisch an die Macht zu kommen.
Smart Investor: Sie sprechen in Ihrem Vortrag von zwei Arten der narzisstischen Störung. Könnten Sie das noch einmal erläutern?
Maaz: Es gibt zwei Varianten, eine narzisstische Störung zu kompensieren. Wir nennen das eine das Größenselbst: Man macht sich größer, als man ist, mehr Schein als Sein, das sind dann eben auch die unangenehmen politischen Führer, die mit ihrem Größenselbst Politik machen oder als Wirtschaftsführer nur den Profit im Auge haben. Das Gegenteil nenne ich das Größenklein, d.h. eine narzisstische Störung, bei der die Personen aber, aus Gründen der sozialen Situation, in der sie aufwachsen, sich nicht aufmotzen, sondern die die Erfahrung machen: „Wenn ich klein und schwach und hilfsbedürftig bin, dann wendet man sich mir zu, dann werde ich versorgt!“ Aber auch das ist keine Liebe.
Smart Investor: Inwiefern stellt dieses narzisstische „Sich-klein-Machen“, das Größenklein eine Gefahr für unsere Gesellschaft dar? Es ist ja weitverbreitet und vielleicht auch die Ursache der Infantilisierung unserer Gesellschaft – also die Weigerung, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen – und der Neigung, diese Verantwortung an übergeordnete Strukturen abzugeben, ob an ein Gesundheitsamt oder an den Staat.
Maaz: Wenn dieses System schwächelt, also unsere finanzkapitalistische Normopathie in die Krise bzw. an ihr Ende kommt, heißt das, dass alle Anpassungen an dieses System auch infrage geraten. Die bisherigen Kompensationen sind nicht mehr erfolgreich. D.h., die meisten Menschen werden des Erfolgs ihrer Anpassung an dieses Wirtschafts- und Politsystem beraubt. Sie sind dann wieder relativ ungeschützt ihren frühkindlichen Störung ausgesetzt, die sie bis dahin kompensiert hatten. Das ist eine Situation, in der ein Mensch, der nicht mehr erfolgreich kompensieren kann, entweder krank wird oder böse.
Smart Investor: Keine guten Aussichten. Was können wir dagegen tun?
Maaz: Wer friedensfähig sein will, muss von sich immer sagen, ich bin auch das Problem, der andere hat immer auch recht, wir wollen uns verstehen in unserer Verschiedenheit. Liebesfähig heißt, ich sorge dafür, dass es dir, dem anderen Menschen, dem Tier, der Natur gut geht, weil ich selbst ein Geliebter bin. Demokratiefähig heißt, wir sind alle verschieden, wir haben alle gleiche Rechte, aber wir dürfen nicht die Meinungsführerschaft den Narzissten überlassen, sondern wir sollten immer um Verständigung ringen und Konsens finden.
Smart Investor: Was können wir ganz konkret gegen das Böse tun?
Maaz: Das Wichtigste ist: Wer sich politisch engagieren will, muss sich dafür engagieren, dass die Frühbetreuung der Kinder verbessert wird! Dazu gehören natürliche Entbindungen, eine gute Stillzeit, keine zu frühe Trennung von Mutter und Kind. Das Zweite: Elternworkshops anbieten, d.h. diejenigen, die schon Kinder haben oder Kinder bekommen wollen, werden in einer Gruppe so unterstützt – als Selbsterfahrung –, dass sie begreifen, wie bin ich als Mutter oder als Vater. Keine pädagogischen Ratgeber, sondern Selbsterfahrung der Fähigkeit, mit Kindern umzugehen. Drittens: Beziehungskultur unter Erwachsenen. Beziehungskultur ist für mich der Begriff für die Fähigkeit, in einer Demokratie zu leben. Es geht nicht mehr um Pro und Kontra auf der Sachebene, sondern es geht immer darum, nach den persönlichen Motiven zu forschen: Wieso denke ich so? Dadurch wird es persönlich. Man kann auf diese Weise, wenn man aufhört, zu streiten, sondern sich und den anderen verstehen lernt, besser miteinander auskommen, sogar befreundet sein, auch wenn man unterschiedliche Meinungen hat. Verstehen heißt ja nicht, einer Meinung zu sein! Der große Vorteil von Beziehungskultur besteht nicht darin, dass ich recht bekommen muss, nein, sondern dass man wechselseitig erlebt, da ist jemand, der hört mir zu und versteht mich – und das ist eines der schönsten Gefühle, die man haben kann.
Smart Investor: Gibt es noch ein Schlusswort, das Sie unseren Lesern in diesen Zeiten der Massenpsychose mitgeben wollen?
Maaz: Wir haben fünf Optionen des Verhaltens in dieser Situation: Anpassung, Widerstand, Subversivität, Rückzug und Gemeinschaft. Das muss jeder – und zwar in jeder Situation – für sich entscheiden: Wie viel Anpassung kann ich mir gestatten, ohne meine Würde zu verletzen? Wie viel Widerstand halte ich aus, wie viel darf ich wagen, wie weit gehe ich, mit welchen Folgen muss ich rechnen? Subversivität heißt: Ja sagen, Nein machen. Mit Rückzug meine ich in die Liebe, in die Natur, zu Tieren, Wandern, Musik, Tanzen, Kunst und Kultur, also Rückzug von dem, was uns dort draußen von früh bis abends bedroht und belästigt. Und schließlich die kleine Gemeinschaft in der Partnerschaft, in der Freundschaft, wo man wirklich Beziehungskultur lebt, von sich spricht, versteht, zuzuhören versucht – das ist Friedenskultur.
Smart Investor: Vielen Dank für Ihre interessanten Ausführungen.
Dr. Hans-Joachim Maaz, Jahrgang 1943, ist Humanmediziner, Psychiater und Psychoanalytiker sowie Autor zahlreicher Schriften. Sein neuestes Buch trägt den Titel „Friedensfähigkeit und Kriegslust“. Maaz liefert darin eine Charakteranalyse der Gesellschaft, die wenig schmeichelhaft ausfällt, aber er bietet auch Lösungsmöglichkeiten an. Sein Vortrag war zugleich Glanz- und Schlusspunkt der Friedenskonferenz in Wasserburg am 28.10.2023.